Kulturwandel zur Kompetenzorientierung: Chancen & Risiken
Dies ist ein uralter Witz aus der Zeit, als in Basel die ambulant in der Psychiatrie behandelten PatientInnen als Webstübler bezeichnet wurden, ganz nach ihren geschützten Arbeitsplätzen. Einer von ihnen soll also an einem späten Abend unter einer Strassenlaterne am Boden herumgekrochen sein und schien verzweifelt etwas zu suchen. Ein Polizist kam ihm zu Hilfe und fragte, nach was er denn suche? Er hätte eben einen Fünfliber verloren und brauche diesen dringend wieder. Der Polizist war ihm behilflich und drehte jeden Stein unter der Laterne, aber der Fünfliber war unauffindbar. Nach einer Viertelstunde fragte der Polizist wo er ihn den verloren hätte. Der Webstübler antwortete: Ja dort drüben in der dunklen Ecke etwa 20m entfernt. Erstaunt fragte der Polizist weshalb er den hier, am falschen Ort suche? Der Webstübler griff sich an den Kopf ob der Frage und sagte: Ja wie soll ich denn den Fünfliber finden, wenn es dort stockdunkel ist, hier hat es wenigsten ein wenig Licht?!
Was hat dieser kuriose Gedankengang mit der Kompetenzorientierung zu tun?
Ein Bildungsgang muss vermitteln, was geprüft wird und prüfen, was vermittelt wird. Dies wird assessment-driven genannt. Alleine dies kann zu einer wesentlichen Qualitätsverbesserung von Curricula beitragen. Deshalb gehört es in der Akkreditierung zu den wichtigsten Kriterien für die Güte des Bildungsganges (constructive alignment)[2].
Nun ist spätestens seit der Publikation der Pyramide von Miller 1990[2] klar, dass mit Multiple Choice Fragen (MCQ) vor allem Wissen (knows), bei ganz geschickt formulierten Fragen allenfalls Anwendungswissen (knows how) geprüft wird. Für das Bestehen des Medizinstudiums ist die Fähigkeit zwingend, Wissen in MCQ-Prüfungen belegen zu können, weshalb auch der medizinische Eignungstest diese Prüfungsform verwendet und deshalb logisch mit dem akademischen Studienabschluss korreliert.
Für die PatientInnen, aber auch für KollegInnen und andere Gesundheitsberufe sind weit umfassendere Kompetenzen wichtig. Den als „Fachidioten“ verschrienen Medical Expert[3] würde man sich manchmal gerne ersparen. Diese Kompetenzen werden gelegentlich als soft skills bezeichnet. Um sie zu prüfen wurden aufwändige Prüfungsverfahren eingeführt, zuletzt in der Schweiz auch in der eidgenössischen Medizinalprüfung: Objective structured clinical examinations (OSCE)[4]. Damit können Fertigkeiten und Fähigkeiten in normierten Situationen geprüft werden (shows how). In der Miller-Pyramide bleibt darüber die Performance (does) offen: Damit ist das reale Tun in einem unbeobachteten Setting gemeint, also zum Beispiel für die Fachärztin in Allgemeiner Innerer Medizin der nachhaltige Erfolg einer hausärztlichen Tätigkeit für PatientInnen und Umgebung. Dies ist das eigentliche Outcome unserer Bildungsgänge, darauf sollte alles, auch der Eignungstest ausgerichtet sein.
Wie aber können diese Kompetenzen gemessen werden. Bisher lagen sie in der dunklen Ecke der mehr beschreibenden Sozialwissenschaften. Die Naturwissenschaften wollen mit ihrer Strassenbeleuchtung Zahlen sehen: Die hohe Validität und Reliabilität der Messverfahren ist wichtiger als der Bezug zum Outcome.
Nun ist diese Lücke geschlossen. Mit den Kompetenzmessinstrumenten kann direkt zwischen dem persönlichen Kompetenzprofil und dem Sollprofil verglichen werden, ganz so wie wenn Sie sich für eine Stelle bewerben. In der Humanmedizin liegen bisher sechs Sollprofile vor für: HausärztIn, telemedizinsch tätige ÄrztIn, SpitalärztIn, ärztliche VerwaltungsbeamtIn, ForscherIn und ÄrztIn mit Führungsverantwortung. Und diese Profile orientieren sich an den Anforderungen der Zukunft.
Das Gesundheitswesen wird in 10 bis 20 Jahren nicht wiederzuerkennen sein.[5] Wer bei so viel Veränderung die Nase über dem Wasser halten will (vielleicht sogar im Wind?), braucht Flexibilität und individuelle Stärken, damit es ihm nicht geht wie den Eisbären, denen das Eis unter den Füssen so schnell wegschmilzt, dass den meisten von ihnen wohl keine Chance bleibt, ihr Essverhalten anzupassen. Bereits sind bei ihnen erste Fälle von Kannibalismus aufgetreten. Auch die Player im Gesundheitswesen verschärfen die Rhetorik – da gibt es keinen Platz für die vergangene Arztpersönlichkeit, die wie die griechischen Götter in einer anderen Welt zu leben schien. Heute werden sie zusammen mit den Priestern von den Boulevardmedien an den Pranger gestellt: 10% der Ärzte vergehen sich sexuell an ihren Patientinnen. Nun kann auch die Ärztekammer der FMH nicht mehr wegschauen.[6]
Zurück zu früheren Zeiten ist keine Perspektive, das liegt nicht in unseren Händen. Weitermachen führt voraussichtlich zur Aufsplitterung der Ärzteschaft in Dutzende von Fachdisziplinen, die sich gegenseitig bekämpfen und von Krankenversicherungen und Verwaltungen fremdbestimmt werden. Eine Alternative bietet die Orientierung am Bedarf der Gesellschaft und im Engagement für ein Gesundheitssystem, das den PatientInnen dient und die Health Professionals darin unterstützt, dass sie ihre Kompetenzen voll zum Einsatz bringen können.[7]
Wie kommen wir dahin? Indem es uns gelingt, neben den Strategie- und Strukturanpassungen auch den notwendigen Kulturwandel aufzunehmen. Dafür sind alle verantwortlich, dazu gibt es viel Erfahrung (z.B. in der Fliegerei), darin werden die Rollen neu verteilt, und daraus werden Menschen entwachsen, welche autonomer und kompetenter frei entscheiden, in welcher Organisation sie mitspielen werden.[8]
Was können Sie tun?
- Als Health Professional orientieren Sie sich vor, während und nach der Aus- und Weiterbildung an Ihren Stärken, messen diese Kompetenzen und setzen sie in Relation zu den Anforderungen der zukünftigen Tätigkeit. Bei Bedarf entwickeln Sie wichtige Kompetenzen weiter oder orientieren sich neu!
- Als Organisation im Gesundheitswesen gehen Sie einen Schritt über die Qualifikationsanforderungen hinaus: Deklarieren Sie die konkreten Anforderungen an Ihre Health Professionals in Kompetenzbegriffen und machen diese transparent. Unterstützen Sie die MitarbeiterInnen bei ihren Kompetenzentwicklungsmassnahmen und leben Sie selbst hohe Kompetenz vor!
- Als BildungsanbieterIn orientieren Sie Ihre Curricula an den Kompetenzanforderungen für Ihre TeilnehmerInnen. Ordnen Sie den Rahmenlehrplan, den Lernzielkatalog, etc. dem Kompetenz-Sollprofil unter.
- Als (potentielleR) PatientIn entwickeln Sie die Gesundheitskompetenzen, die heute notwendig sind, um in diesem System zu einer optimalen Versorgung zu kommen – oder sie gar nicht notwendig zu haben!
Und wann? Warum nicht jetzt? Ich unterstütze Sie dabei gerne!
[1] Wass, V., et al., Assessment of clinical competence. Lancet, 2001. 357(9260): p. 945-9.
[2] Biggs, J.B. Aligning Teaching and Assessing to Course Objectives. in Teaching and Learning in Higer Education - New Trends and Innovations. 2003. University of Aveiro.
[3] Miller, G.E., The assessment of clinical skills/competence/performance. Acad Med, 1990. 65(9 Suppl): p. S63-7.
[4] Frank, J.R. and D. Danoff, The CanMEDS initiative: implementing an outcomes-based framework of physician competencies. Med Teach, 2007. 29(7): p. 642-647.
[5] Jefferies, A., et al., Using an objective structured clinical examination (OSCE) to assess multiple physician competencies in postgraduate training. Med Teach, 2007. 29(2-3): p. 183-91.
[6] Der Bund vom 26.4.13 Seite 8
[7] Ein nachhaltiges Gesundheitssystem für die Schweiz - Roadmap der Akademien der Wissenschaften Schweiz, 2012, Akademien der Wissenschaften Schweiz: Bern. p. 9.
[8] Frenk, J., et al., Health professionals for a new century: transforming education to strengthen health systems in an interdependent world. Lancet, 2010: p. 1-36.
[9] Beck, P., Unternehmenskultur wirkt - Leader gestalten den Rahmen. Alpha, 2010.